Thüringer Klöße

 

Thüringer Klöße sind in Thüringen ein Kultobjekt. Über diese Klöße ist schon unendlich viel gesagt und geschrieben worden. Auf alle Fälle sind sie in heikles Thema. Die einen empfinden sie als roh und nahezu ungenießbar – das sind Fremde und Zugereiste. Die anderen lieben und verehren sie – „ohne Klöße ist es kein richtiger Sonntag“ – das sind Thüringer. Der Kloßverzehr scheint ein Rassemerkmal zu sein, vermutlich genetisch bedingt. Mein Enkel hält sich aus dieser Diskussion ganz heraus. Er ist Sachse und für ihn waren Thüringer Klöße schon immer ein Westimport. Selbst Klöße zu loben kann gefährlich sein. Ich habe nach einem köstlichen Jagdessen nur wenige Meter jenseits der Landesgrenze die Köchinnen wegen ihrer hervorragend schmeckenden „Thüringer Klöße“ gelobt. Statt Freude auszulösen, wurde mir unisono erwidert: „Das sind Vogtländische!“ Das saß! Seit der Zeit halte ich mich zurück, wenn es um Kloßrezepte geht. Auch hier verkneife ich mir eins. Da ist doch schon der Name ein Problem. Die Vogtländischen Klöße heißen für normale Zungen unaussprechlich „Griegeniffte“. Die Thüringer Klöße tarnen sich unter verschiedenen Namen. Was im Frankenwald die „Grünen Klöße“ sind, das sind südwestlich des Thüringer Waldes die „Hütes“. Anderswo weiter im Norden sind „Klump“, „Klunz“ oder „Huller“ gebräuchlich. Der „Erdäpfelskluß“ hat neben seine verschiedenen Namen auch die verschiedensten Zubereitungen. Stehen zehn Hausfrauen zusammen, gibt es zehn „richtige“ Kloßrezepte. Sicher ist nur, dass die Grundbestandteile Kartoffeln, Wasser und Salz immer dabei sind und an und für sich schon einen guten Kloß ergeben. Aber die Details machen es. Wie grob darf das Reibeisen für den Schab sein? Ist es auch die richtige Kartoffelsorte? Die richtige Größe der richtigen Sorte hat ihre eigene Maßeinheit – „die Kloßkartoffel“. Danach wird man allen Ernstes beim Kartoffelkauf gefragt! Wer hier Unkenntnis zeigt, offenbart sich sofort als Fremder. Wahre Glaubenskriege werden um die Zubereitung geführt. Den Schab erst wässern und ruhen lassen, oder gleich pressen? Die gute alte Kartoffelpresse verwenden oder im Leintuch auspressen? Alternativ kann man auch den Fruchtentsafter verwenden. In Thüringen mittlerweile Verkaufsargument für diese kleinen Zentrifugen. Das Teilungsverhältnis von Schab zu Brei könnte ein Kapitel in einem Mathematikbuch füllen. Proportionslehre auf thüringisch. Dann muss noch die Grundfrage geklärt werden, soll die stärke wieder dran oder gar weggelassen werden? Wenn der Schab mit dem Brei vermengt wird, sind starke Frauen- und Männerarme gefragt. Allein geht gar nichts! Alle Fenster und Türen werden zugerammelt. Um Gottes Willen keinen Zug auf den Kloßteig zulassen. Der Thüringer hört, wenn der Kloßteig fertig ist. Ein kräftiges „Schmatzen“ des Teiges kündet das Ende der Kraftanstrengung an. Während die Bizepse sich eine Pause gönnen, muss die nächste Gewissensfrage entschieden werden. Mit oder ohne in Butter geröstete Semmelwürfel? Mit ist besser! Diese köstlichen Semmelwürfel naschten meine Kinder und nannten sie Bonbon. Nun endlich formt die Hausfrau mit nassen Händen die Klöße mit den Semmelwürfeln in der Mitte. Die Kugelform ist unstrittig. Aber über die Größe kann man schon wieder streiten. Rückschlüsse auf die Handgröße der Hausfrau zu ziehen ist unfein. Klar wie Kloßbrühe heißt es im Volksmund. Aber auch diese hat ihre Geheimnisse. Salzgehalt, Stärkezugabe als Geheimtrick und die Temperatur müssen bedacht werden. Jetzt darf der Kloß endlich in der Kloßbrühe versinken. Wenn er wieder auftaucht, ist er fertig. Endlich wieder mal eine Meinung. Aber wenn er dann noch heiß dampfend auf dem Teller liegt, ist die Meinung schon wieder geteilt. Bratschebreit oder in idealer Kugelform, fest oder locker, das ist hier die Frage. Bis zum Kaffeetrinken ist ja noch Zeit zur „Manöverkritik“. Die Klöße der Gastgeber, der Gasthofköche oder der Nachbarn  kann man als gut, als Krönung der Tafel oder schlicht als missglückt bezeichnen. Die der eigenen Küche kann man nur essen. Man will doch schließlich noch etwas von dem Sonntag haben. Selbst beim Essen kann man noch Fehler begehen. Um Gottes Willen niemals den Kloß schneiden! Wer das tut, offenbart sich nicht nur als Fremder und Zugereister, sondern gilt glatt als Banause.

 

So nun wissen Sie, warum wir uns nicht auf ein Rezept einlassen. Es gibt inzwischen gute Fertigkloßteige aus der Kühltruhe des Supermarkt. Irgendwie bringen wir die gerösteten Semmelwürfe in die Mitte, die Klöße rund und ins Kloßwasser.

Gibt es dann Kritik an unsern Klößen, können wir die Fehler beruhigt auf andere schieben.

 

Ohne Stress kümmern wir uns derweil um einen guten Braten, eine gute Soße, einen schmackhaften Nachtisch und einen passenden Wein.